Disclaimer: Ich werde der Einfachheit halber in diesem Artikel immer nur von „Männern“ und „Frauen“ sprechen. Damit gemeint sind männlich bzw. weiblich gelesene Personen unabhängig von ihrer Physiologie, ihrer Geschlechtsidentität oder dem bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht. Die Unterschiede zwischen autistischen Männern und Frauen lassen sich nicht durch körperliche Unterschiede erklären, sondern sind weitestgehend ein Ergebnis unterschiedlicher Sozialisation.
Anekdote
Laut gesetzlichen Richtlinien ist Autismus eine Behinderung mit einem Grad von mindestens 50%. Als ich kurz nach meiner Diagnose den Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis stellte, war ich also überrascht, als die Antwort lautete: Grad der Behinderung 20%, Diagnose „Seelenleiden“.
Ich fragte mich durch meinen neurodivergenten Freundeskreis und musste feststellen: Nicht nur hatten die Männer weniger Schwierigkeiten, den empfohlenen GdB direkt zugesprochen zu bekommen, in ihren Bescheiden, das weiß ich in mindestens einem Fall sicher, steht nichts von „Seelenleiden“, sondern ausdrücklich Autismus als Diagnose.
Ich kenne die Problematik anekdotischer Evidenz, doch in diesem Fall deckt sich meine Anekdote mit den Erkenntnissen aus der Forschung zu Autismus bei Frauen. Wie so oft ist Sexismus das Problem: Die fehlerhafte Vorstellung, Autismus sei „Männersache“ und Frauen, qua Geschlecht, könnten gar nicht autistisch sein.
Weiße Jungs, die Züge mögen, und die Mär vom „männlichen Gehirn“
Aber woher kommt dieser Irrglaube? Leider kommt er aus der Forschung selbst. Deutete sich der Sexismus bei Hans Asperger schon an, wurde er von Simon Baron-Cohen fortgeführt. Baron-Cohen und seine Kollegen bemühten sich, Diagnosekriterien für Autismus aufzustellen und orientierten sich dabei ausschließlich am Verhalten autistischer weißerJungs. Baron-Cohen glaubte gar, im autistischen das „männliche“ Gehirn gefunden zu haben; eine Behauptung, die er weiter propagiert, obwohl er sie nie belegen konnte. Aus diesen Diagnosekriterien wurde dann ein Diagnosewerkzeug in Form von Fragebögen, die sich eher wie eine Klischeesammlung lesen, aber weiterhin benutzt werden. Und dann ist es wie beim Herzinfarkt:
Weil Frauen Herzinfarkte anders erleben als Männer (Druck auf der Brust statt Schmerzen im linken Arm), wurden und werden sie immer noch häufig fehldiagnostiziert, mit teilweise tödlichen Folgen. Autistische Frauen erreichen bei den Fragebögen oft nicht die nötige Punktzahl und werden stattdessen mit ihren Komorbiditäten diagnostiziert, das sind meist Depression, Angststörung, Zwangsstörung, oder ihnen wird eine Persönlichkeitsstörung wie Borderline oder Narzisstische Persönlichkeitsstörung angedichtet. Das kann, gerade wenn Medikation eingesetzt wird, verheerende Folgen haben.
Die aktuelle Diagnosequote liegt ungefähr bei 5:1, inzwischen gehen aber die meisten Forschenden und Diagnostizierenden davon aus, dass die Quote in Wahrheit eher 1:1 ist. Für autistische Frauen ist es außerdem normal, erst im Erwachsenenalter diagnostiziert zu werden. Auch das ist gefährlich für das Wohlergehen der Betroffenen. Ich war 34, als ich schließlich die Diagnose hatte, habe also über 30 Jahre mit dem Gefühl gelebt, dass ich nicht nur anders bin als alle anderen, sondern schlechter. Schlechter in sozialen Situationen, schlechter im Beruf, schlechter im Führen von Beziehungen. Hätte ich früher gewusst, dass soziale Interaktionen, das Ausführen von für mich uninteressanten Tätigkeiten, und die Feinheiten menschlicher Beziehungen deshalb so schwer für mich sind, weil mein Gehirn anders verkabelt ist (es also nichts mit meinem Charakter zu tun hat), hätte mir das viel Leid und Selbstbestrafung erspart. Autistische People of Color teilen übrigens unser Schicksal, denn auch sie werden von den unzureichenden Diagnosekriterien ausgeschlossen und müssen um Anerkennung und Unterstützung kämpfen.
Fluch und Segen: Die Maske
Maskieren (auch Chameleoning oder Camouflaging) bedeutet, den eigenen Autismus zu verstecken. Zum Beispiel, indem man selbstregulierendes Verhalten (Stimming) unterdrückt, oder soziale Situationen wie einen Theaterauftritt behandelt, für die es ein festes Verhaltens- und Redeskript im Kopf gibt, das abgespult und hoffentlich nicht durch Überraschungen durcheinandergebracht wird. Von Frauen wird in unserer Gesellschaft schon früh ein sozial besonders verträgliches Verhalten erwartet, und als Autistinnen, die ihre eigenen Schwierigkeiten spüren, versuchen wir meist umso mehr, den Erwartungen gerecht zu werden, auch auf Kosten unseres eigenen Wohlergehens.
Ich habe mich fast mein ganzes Leben lang zu einem Sozialverhalten gezwungen, das viel zu anstrengend für mich war. Aber wenn ich beispielsweise nicht darauf geachtet habe, dass meine Stimme weich klingt und in meinem Gesicht Mimik passiert, hieß es schnell: Warum klingst du so genervt? Warum guckst du so böse/gelangweilt? Lächle doch mal! Sei doch nicht so unhöflich! Das gehört sich nicht (als Frau). Und wenn ich mein eigenes Sprechen nicht wie ein Skript geübt und spontan reagiert habe, hieß es: Du bist aber direkt! Das war jetzt too much information, das hättest du nicht sagen sollen! Das gehört sich nicht (als Frau). Also habe ich maskiert, habe andere in Mimik, Verhalten und Stimme nachgeahmt, habe mir Skripte zurechtgelegt und mit mir selbst Gespräche geübt – insgesamt viel extra Aufwand betrieben.
Das Maskieren hat mir oft geholfen, soziale Situationen zu überstehen, ohne negativ aufzufallen. Aber es hat mich auch mit dem Gefühl zurückgelassen, dass ich nicht weiß, wer ich hinter dieser Maske eigentlich bin, und dass ich meine Persönlichkeit neu ausloten muss. Außerdem hat die Maske es mir und meinen Mitmenschen schwer gemacht, meinen Autismus zu erkennen. Hätte ich weniger maskiert, hätte ich sozial vielleicht mehr Schwierigkeiten gehabt, aber vielleicht wäre das gerade gut gewesen, weil so mein Autismus früher hätte entdeckt werden können.
Was mir in diesem Prozess geholfen hat, waren Menschen wie Sarah Hendrickx und Sam: Zwei autistische Frauen, die sich professionell mit Autismus beschäftigen und deren Inhalte bei YouTube zu finden sind.
Zum Schluss
In meinem Bescheid steht nicht nur „Seelenleiden“, sondern auch, dass ich verpflichtet bin, anzuzeigen, wenn sich mein Zustand verbessert. Ich betone das so, weil dieser Satz einen Paragrafen zitiert. Ich habe den Paragrafen nachgeschlagen. Der Satz lautet eigentlich: Ist verpflichtet anzuzeigen, wenn eine Veränderung eintritt. Ich glaube nicht, dass diese Verschiebung der Bedeutung ein Zufall ist. Ich glaube auch nicht, dass die irrige Idee, mein Autismus sei ein „Seelenleiden“, Zufall ist. Ich bin mir fast sicher, dass mir mein Autismus nicht geglaubt wird, weil ich als Frau gelesen werde. Und ich glaube auch, dass diese Tendenz in deutschen Versorgungsämtern weit verbreitet ist. Ich weiß nicht, ob dieses Editorial etwas daran ändern wird. Aber ich hoffe, dass ich wenigstens den geneigten Lesenden etwas anbieten konnte, was sie noch nicht wussten.