Pandemie ist Ausnahmezustand. Pardon, war, denn bald soll laut Jens Spahn die epidemische Lage beendet werden. Die so lange von so vielen so heiß, so schmerzlich, so mühsam ersehnte „Normalität“ rückt ein kleines Stückchen näher. Komm, du schaffst das! Bravo, könnte man jetzt sagen und sich entspannt zurücklehnen. Kneipe is auch wieder offen (wenn man nicht grade im Ahrtal lebt), alles prima. Alles nochmal gut gegangen. Schwein gehabt.
Aber welcher „Normalität“ gilt denn eigentlich unsere Sehnsucht? Weiter so, wird schon – hat nicht gerade diese gemütliche Kurzsichtigkeit uns in eine Lage gebracht, die soziale Ungleichheiten verfestigt und die Klimakatastrophe befeuert? Carolin Emcke hat beim Grünen–Parteitag im Sommer eine kurze Rede gehalten. Ironischerweise wurde genau diese Rede Ziel eines Shitstorms (ihr wurde in gezieltem Missverständnis Antisemitismus unterstellt), aber um Exkremente soll es an dieser Stelle nicht gehen, sondern um die „Zweite Aufklärung“, die Emcke in ihrer Rede anregte. Sie sprach von der „Lust am gesellschaftlichen Lernen“, die es dafür brauche. In Gegen den Hass heißt es weiter: „Einen festen Grund schaffen, auf dem alle stehen können, darauf kommt es an.“
Ein fester Grund unter jeder Fußsohle. „Auf eigenen Beinen stehen“. Check. Niemandem wird „der Boden unter den Füßen weggezogen“. Check. Wohl-Stand für alle! Check, check, check. Der feste Grund übrigens ist natürlich eine Metapher, man kann ihn aber auch wörtlich nehmen. Erst kürzlich veröffentlichte Rebecca Endler ihr Buch Das Patriarchat der Dinge. Endler nimmt die scheinbar selbstverständliche Beschaffenheit unserer Straßen, Städte, Autos und Designs in den Blick. Überraschung: Der feste Boden orientiert sich in unüberschaubar weiten Teilen an der Norm des cis-männlichen Körpers. Alle anderen rutschen so durch und fallen gelegentlich halt hin. Autsch.
Zweite Aufklärung also, make the light shine bright again, uff. Scheint aktuell schon alles ziemlich anstrengend.
Die Realität, die ich persönlich im zweiten Pandemie-Herbst erlebe, ist kollektive Erschöpfung. Die Gründe dafür sind sicher unterschiedlich. Was jedoch durchgängig deutlich wurde in den vergangenen Monaten, wieder einmal: Der Wert, durch den unsere Gesellschaft organisiert ist, heißt Geld. Heißt Kapital. Hallo Wohlstand, um den die rhetorischen Figuren kreisen. Pas de deux. Und Pirouette!
Ganz vorn dabei in diesem Reigen ist ein sehr altes Missverständnis. Es jauchzt: „Vielfalt ist super, das ja, Regenbogenfahne raus bei Wind und Wetter! Aber wer mittanzen möchte, der soll sich doch bitte anpassen. Wenn er*sie (meist beide) hier mitmischen will, muss er*sie (meist sie) das eben aushalten. Das ist doch nicht unsere Schuld!“ Doch, altes Missverständnis, doch, und genau deshalb gehörst du schleunigst aus dem Weg geräumt. Vielfalt und Gleichberechtigung bedeuten, die Strukturen selbst zu hinterfragen und neu zu denken. Diversität bedeutet, nach neuen Umgangsformen zu suchen. Neue Arbeitsweisen zu etablieren. Bedeutet Raum schaffen und zuhören. Sensibel sein für die Erfahrungen anderer. By the way: Erst seit 2018 gibt es eine Firma, die Spitzenschuhe für Schwarze Tänzer:innen herstellt, schreibt Endler.
Gleichberechtigung braucht Mut. Politische Visionen und deren konsequente Realisierung. Solidarität. Jede*n einzelnen. Also schon mal bei sich selbst anfangen? Was wären denn alternative Werte – Zufriedenheit? Gesundheit? Unsicherheit? Unsicherheit, das klingt nur auf den ersten Horch paradox. Sehr negativ aufgeladen – get, what you want! Love, what you do! Aber im Gegenteil, könnte Unsicherheit nicht von enormem Wert sein, wenn es ums Lernen geht? Weil sie die unschätzbar wertvolle Möglichkeit bietet, DingeWerteNormen neu auszutarieren.
Unsicherheit zwingt dazu, Ambivalenzen und Widersprüche zuzulassen und aaaaauszuhalten. Feminist*in sein und wahrzunehmen, wo ich selbst in sexistischen Denkmustern festhänge. Als weiße Person die eigenen Rassismen reflektieren lernen. Niemand ist ausschließlich durch eine einzige lineare Geschichte fassbar. Es gibt immer verschiedene Perspektiven und Erfahrungen. Selbst wenn sie nicht immer ausgesprochen werden. Oder es (noch) gar keine Sprache dafür gibt. Kein Bezugssystem, in das sie eingeordnet werden könnten. Aber genau das gilt es ja zu entwickeln, auch mit ästhetischen Mitteln. Ambivalenz ist die Norm.
Frage: Könnte „gesellschaftliches Lernen“ gerade mit der Fähigkeit beginnen, sich selbst als ambivalente Identität zu akzeptieren? Mit einem Selbst-Vertrauen, das wurzelt im Wissen um die eigenen Widersprüche, internalisierten Normvorstellungen und Sehnsüchte? Könnte „gesellschaftliches Lernen“ gerade im Anerkennen der eigenen Unsicherheit, Verletzbarkeit und damit Menschlichkeit beginnen?
Wäre das ein Grund, auf dem alle stehen können?
Carina Sophie Eberle für BÄM!