Carrie Mae Weems, „Kitchen Table Series (Woman Standing Alone)“, 1990; © Carrie Mae Weems. Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York / Galerie Barbara Thumm, Berlin

Carrie Mae Weems – Blues als feministische Praxis

Die ersten Blues-Schallplatten wurden von Schwarzen Frauen aufgenommen und enthielten subversive, feministische Inhalte.

Louisa Potthast

1973 erhielt Carrie Mae Weems ihre erste Kamera zum Geburtstag. Seitdem erstellt sie mit ihren Selbstporträts Bilder, die den hegemonialen Bildern von Schwarzen Frauen in den Medien entgegenwirken. The Kitchen Table Series von 1990 gilt als ihr bekanntestes Werk; sie schuf die Serie über einen längeren Zeitraum hinweg und vermischte dabei persönliche mit fiktionalen Elementen. Die zwanzig Fotografien werden von Texten begleitet, die laut Weems vom Blues geprägt sind: „I’m very interested in ideas about blues and jazz, that expressive musical culture. That’s where I function“ (Weems in hooks). The Kitchen Table Series ist thematisch und formal wie ein Blues-Song aufgebaut: Es geht um Liebe, Sexualität, Gewalt und den Wunsch einer Frau nach Freiheit und Unabhängigkeit, die mit den Techniken des Blues umgesetzt werden.

Der Blues war Anfang des 20. Jahrhunderts für Schwarze Frauen eine Möglichkeit, Gegenerzählungen zu schaffen und ihre Subjektivität zurückzufordern. Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin und Philosophin Angela Davis weist darauf hin, dass der Blues eine frühe feministische Praxis war. In Blues Legacies and Black Feminism: Gertrude “Ma” Rainey, Bessie Smith und Billie Holiday untersucht sie, wie die Bluessängerinnen feministische Themen in ihrer Musik verarbeiteten. Nicht Schwarze Männer, sondern Schwarze Frauen nahmen den Blues zuerst auf. Die Musik dient als „reiches Terrain für die Untersuchung eines historischen feministischen Bewusstseins, dass das Leben der schwarzen Arbeiterklasse widerspiegelt“ (Davis). Entgegen gängigen Annahmen, so Davis, sind die historischen Ursprünge des Feminismus nicht weiß: Lange vor den consciousness raising groups der 1960er-Jahre haben Schwarze Frauen die Gewalt in ihren Beziehungen infrage gestellt, und ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht. Zu einer Zeit, als weiße Feministinnen nur für das Wahlrecht für Frauen aus der weißen Mittelschicht kämpften, stellten Schwarze Frauen bereits „die Vorstellung in Frage, dass der ‘Platz’ der Frau im häuslichen Umfeld liegt“ und arbeiteten daran, den Status quo der patriarchalischen Ideologie zu dekonstruieren: „Die Figuren im Blues der Frauen sind unabhängige Frauen, die frei sind von der häuslichen Orthodoxie der vorherrschenden Darstellungen von Weiblichkeit, durch die die weiblichen Subjekte der Epoche konstruiert wurden“ (Davis). In The Kitchen Table Series erstellt Weems ähnlich wie im Blues eine Gegenerzählung mithilfe von Fotografie und Texten. Der Schauplatz der Küche ist in vielerlei Hinsicht von Bedeutung: Die Küche symbolisiert Weiblichkeit und Hausarbeit. Wie Okobi hervorhebt: „Die Wahl des Küchentischs ist metaphorisch, da er den Platz einer Frau suggeriert und symbolisch für die turbulenten historischen und zeitgenössischen Bedeutungen der Küche ist.“ Die Betrachter*innen sind eingeladen, nicht nur einen Blick in diese intime Umgebung zu werfen, sondern, da die Kamera am Ende des Küchentischs positioniert ist, an den Diskussionen rund um das Thema Schwarze Weiblichkeit teilzunehmen.

Die Protagonistin in The Kitchen Table Series ist eine unabhängige Frau, die ähnlich wie in Bessie Smith’s Song Young Woman’s Blues nicht an einer Ehe interessiert ist: „No time to marry, no time to settle down / I’m a young woman and ain’t done runnin’ ‘round“ (Smith in Davis). Wie Davis feststellt, „hatten diese Frauen im Blues keine Skrupel, weibliches Begehren zu verkünden“. In The Kitchen Table Series romantisiert die Protagonistin die Liebe ebenfalls nicht – gleich zu Beginn schreibt Weems: “They walked, not hand in hand, but rather side by side in the twinkle of August/September sky, looking sidelong at one another, thanking their lucky stars with fingers crossed.” Die Beziehung beginnt mit „gekreuzten Daumen“, ohne Romantisierung: „Furchtloser, ungeschminkter Realismus ist ein charakteristisches Merkmal des Blues. […] Ihre Darstellungen sexueller Beziehungen sind nicht in Übereinstimmung mit der Sentimentalität der amerikanischen Volksliedtradition konstruiert“, so Davis. Wie im Blues ist die Protagonistin in The Kitchen Table Series eine unabhängige Frau „frei von der häuslichen Orthodoxie der vorherrschenden Darstellungen von Weiblichkeit“ (Davis).

Sowohl The Kitchen Table Series als auch der Blues thematisieren frauenfeindliche Gewalt. Auffallend ist jedoch nicht nur die Tatsache, dass das Tabuthema Gewalt gegen Frauen angesprochen wird, sondern auch die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen wird. Obwohl Gewalt eine ernste Angelegenheit ist, behandeln Bluessängerinnen wie Bessie Smith das Thema auf humorvolle und analytische Weise: „Smiths sarkastische Präsentation der Texte verwandelt die Beobachtungen über einen untreuen, missbrauchenden und ausbeuterischen Liebhaber in eine vernichtende Kritik an männlicher Gewalt“ (Davis). Besonders die Zeile „Gee, ain’t it great to have a man that’s crazy over you?“ in Smiths Song Yes, indeed he do! von 1928 sticht hervor: Indem sie diese rhetorische Frage stellt, unterstreicht sie ihr Bewusstsein für die Situation und macht die frauenfeindliche Gewalt für die Zuhörer*innen offensichtlich. Im Vorfeld des Textes über den Gewaltausbruch ihres Partners verwendet die Erzählerin in The Kitchen Table Series bei zahlreichen Gelegenheiten ebenfalls Humor, um die toxische Männlichkeit des Partners zu betonen: „Ha. A woman’s duty! H! A punishment for Eve’s sin was more like it. Ha. […] He wasn’t working like she was, but ends meeting, ha!” Indem sie über die Situation lacht, zeigt sie, dass sie sich ihres Wertes bewusst ist, und befreit sich schließlich aus dieser Situation.

Mutterschaft ist im Blues selten ein Thema, was keine „Ablehnung der Mutterschaft an sich bedeutet, sondern eher darauf hindeutet, dass Frauen des Blues den Mainstream-Mutterkult als irrelevant für die Realitäten ihres Lebens empfanden“ (Davis). Weems Protagonistin entspricht weder dem Mutterschaftskult noch den traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit. Von den zwanzig Fotografien gibt es nur auf einer eine Vorstellung von Häuslichkeit (abgesehen von den Fotos mit ihrer Tochter): Die Familienmahlzeit. Auf allen anderen Fotos befinden sich entweder alkoholische Getränke, Zigaretten, Spielkarten oder Bücher auf dem Tisch. Alkohol, Zigaretten und Karten gelten als Laster und nicht als „weiblich“. Die Bluessängerin Gertrude „Ma“ Rainey zum Beispiel “feiert in ihrem Barrel House Blues das Verlangen der Frauen nach Alkohol und guter Laune und ihr Vorrecht, als ebenbürtige Männer Untreue zu begehen“ (Davis): „Papa likes his sherry, mama likes her port/ Papa likes to shimmy, mama likes to sport/ Papa likes his bourbon, mama likes her gin/Papa likes his outside women, mama like her outside men“ (Rainey in Davis).

Die ersten Blues-Schallplatten wurden von Schwarzen Frauen aufgenommen und enthielten subversive, feministische Inhalte. Sie konstruierten ein neues Bewusstsein für Schwarze Frauen und behandelten Themen wie Liebe, Beziehungen und frauenfeindliche Gewalt. Sie trotzten den weißen patriarchalischen Strukturen, indem sie die heterosexuelle Ordnung infrage stellten. The Kitchen Table Series bedient sich den Elementen des Blues: Die Liebe wird nicht romantisiert, Unabhängigkeit für Frauen steht an erster Stelle und Gewalt gegen Frauen wird mithilfe von Humor und Satire behandelt. Insgesamt wirft The Kitchen Table Series von Weems ein Licht auf die lange Geschichte der Unterdrückung der Schwarzen Frau in der Gesellschaft. Mithilfe der Fotografie thematisiert Weems die rassistische und sexistische Strukturen in der Gesellschaft und nutzt gleichzeitig den dokumentarischen Charakter der Fotografie, um eine authentische Schwarze Frau zu porträtieren, die in keine Kategorie passt.  Die Fotografien von Weems greifen Themen auf, die in den 1990er-Jahren aktuell waren und es auch heute noch sind. Ihr Werk kritisiert nicht nur den Status quo, sondern bietet auch eine positive Perspektive: Schwarze Frauen können durch Schwarzes feministisches Denken ihre Körper zurückfordern und neue Bilder schaffen.

Quellen:

Davis, Angela Y. Blues Legacies and Black Feminism: Gertrude “Ma” Rainey, Bessie Smith and Billie Holiday. Vintage, 1999.

hooks, bell. Art on My Mind: Visual Politics. New Press: Distributed by W.W. Norton, 1995.

Okobi, Obidimma O. Invisible Women: The Re-Presentation of African-American Women in the Photography of Lorna Simpson and Carrie Mae Weems. Wesleyan University, 1998.