„Du musst ja unglaublich kreativ sein!“, hörte ich oft, als ich studierte – bei Partys und zu anderen Gelegenheiten. „Es ist vor allem harte Arbeit,“ entgegnete ich. Vor einigen Jahren wurden „kreative Berufe“ noch kritisch wahrgenommen, schienen sie doch langfristieger materieller Absicherung entgegenzustehen. Sicherlich unterscheiden sich solche Meinungen je nach Herkunft und Familienhintergrund. Meine Gründe für ein kreatives Studium waren meine Leidenschaft und mein Interesse. Das war mir wichtiger als finanzielle Absicherung oder Stabilität. Ich entschied mich für Kommunikationsdesign, meine Kommiliton*innen studierten Textil-, Produkt-, und Bühnendesign, Architektur oder freie Kunst. Wer sich für ein kreatives Studienfach qualifiziert, hat meist einen langen Weg hinter sich. Förderung in der Kindheit und Jugend bedarf Zeit und finanzieller Mittel. Da wundert es nicht, dass viele Kreative aus dem Bürgertum stammen. Dessen Nachwuchs profitiert oft von Kenntnissen über das Verhalten der kulturellen Szene.
Angekommen an der Kunstakademie, fand ich mich hauptsächlich unter Kommiliton*innen aus akademischem Elternhaus ohne Migrationshintergrund wieder. Dort wurde von Tag eins der Habitus der kreativen Klasse trainiert: So viel und so lange wie möglich im Atelier arbeiten, viel feiern und konsumieren, alle anderen nicht-kreativen Lebensweisen abwerten. Wer am härtesten an den Projekten feilte, hatte sich Respekt verdient. Gute Ideen und Konzepte wurden nächtelang ausgearbeitet, um von den Professoren zerrissen zu werden. Das schien mir jedoch positiv, wurde der Prozess des kreativen Kreislaufs doch von vorne angestoßen, um ein einzigartiges Ergebnis zu erzielen. Ich musste noch mehr und härter arbeiten, wenn ich mich verbessern wollte.
So wurden wir an die Arbeitsbedingungen der Branche gewöhnt und lernten, dass Coolness und Leistung die wichtigsten Faktoren waren, um die Anerkennung unserer Peers zu gewinnen. Der Wunsch nach Stabilität, Geld oder einem sicheren Job – alles, was dem Ideal des Strebens nach dem perfekten Entwurf im Weg stand, galt als uncool. Dieser zu Schau gestellte Habitus war Teil des symbolischen Kapitals, das ich mir aneignete.
Als ich meinen ersten Job in einer hippen Agentur begann, war ich bereits in der Arbeitskultur sozialisiert. Dabei mischten sich ritualisiertes Trinken und Rauchen mit Arbeiten bis in den späten Abend. Ich war sogar dankbar, dass ich dafür bezahlt wurde, war der Job doch hart errungen. Immer wieder erlebte ich, dass neue Mitarbeiter*innen nach wenigen Wochen kopfschüttelnd kündigten, als würden sie die Flucht ergreifen. Andere verschwanden monatelang im Burn-Out.
Die Verheißung, sich für prestigeträchtige Projekte zu empfehlen, verschafft vielen Berufseinsteiger*innen einen Motivationsschub. Der hilft dabei, die vielen Überstunden zu überstehen. Unbezahlt natürlich – denn viele waren dankbar für den Traumjob. Eine Trennung von Arbeit und Privatleben galt als naiv-unrealistisch und gar nicht erstrebenswert.
Was ich nicht gelernt hatte: Effizientes Arbeiten, Professionalität im Umgang mit Kolleg*innen und Führungskräften, Rücksicht auf körperliche und mentale Gesundheit. Verhandlungen, Zeiteinteilung, strategisches Denken in Bezug auf die eigene Karriere, gar Kostenkalkulation oder das Schreiben von Rechnungen – das war im Studium kein Thema. Stattdessen hatte die Vorgabe, immer alles für die beste Idee, den besten Entwurf zu geben, mich perfekt auf die Ausbeutung im Beruf vorbereitet. Ich bemerkte es nicht einmal, sondern freute mich, dazuzugehören.
Ein paar Jahre später: Die Verheißungen sind die gleichen geblieben. Aber die Belegschaft von jungen Mitarbeiter*innen wird regelmäßig ausgetauscht, denn ohne deren Arbeitskraft lassen sich Projekte kaum umsetzen. Ineffizientes Arbeiten, fehlende Führung, ahnungslose Teamleads und chaotische Verwaltung – das bezahlten Mitarbeitende durch Leidenschaft und harte Arbeit, sprich Überstunden. Klischees wie „Chaos ist kreativ“, „gute Ideen halten sich nicht an feste Arbeitszeiten“, etc. halfen, den Status Quo aufrecht zu erhalten und Kritik abzuwenden. So sind Dogmen wie die Aura der „Freiheit und Selbstverwirklichung durch Kreativität“ oder „Berufung statt Beruf“ weiterhin wirkmächtig.
Dass Menschen im Design- und Kulturbereich im Vergleich zu anderen Akademiker*innen unterdurchschnittlich verdienen, wusste ich implizit. Eine „prekäre Elite“ nennt die Anthropologin Giulia Mensitieri dies in ihrem Buch 1: „viele Überstunden für wenig oder kein Geld, spärliche Zukunftsperspektiven, häufige Befristungen mit permanenter finanzieller Unsicherheit und jahrelangem Leistungsdruck, alles unter dem Deckmantel von Selbstverwirklichung und Traumjob. Wer sich behaupten will, muss das soziale, kulturelle und symbolische Kapital weiterhin vermehren.“ All die Jahre harter Arbeit helfen meistens nur den Arbeitgeber*innen. Deren Ruhm und Glanz färben nur so lange ab, wie man in deren Tretmühle strampelt.
Kreative Arbeit entsteht aus den Emotionen und Gedanken ihrer Schöpfer*innen. Diese Energie in ihre Arbeit zu stecken und dadurch zu guten Entwürfen mit hoher Qualität zu kommen, gehört für viele zum Selbstbild und zur Identität. Daraus ziehen kreative Menschen ihren Selbstwert. Doch ihre Arbeit wird meist von anderen vermarktet und verkauft. Der Dualismus von Kreation und Beratung wird in vielen Büros stets aufrechterhalten und damit eine Emanzipation der Kreativen und der Kontrolle über ihre eigene Arbeit verhindert. Zwar konnte ich mich nicht-kreativen Kolleg*innen dank meines kulturellen Kapitals überlegen fühlen, trotzdem war ich von ihnen abhängig, ohne den Inhalt ihrer Arbeit zu kennen. Das mystische Ideal der Künstler*innen-Genies, der Meister*innen im Bauhaus, hinterlässt lange seine Spuren und hielt mich unwissend und voller Vorurteile über Organisation oder Projektmanagement.
Solange eine künstlerische oder kreative Selbstständigkeit als Ideal vorgelebt wird, ist es fahrlässig, den administrativen Teil in Ausbildung und Studium wegzulassen. Kreativ-Arbeitende und Studierende müssen in grundlegenden Kenntnissen in Buchhaltung und Selbstorganisation ausgebildet werden. Dass ein einfacher Buchhaltungskurs mich mehr emanzipieren würde, als andere Fähigkeiten wie Entwurf, Networking oder Marketing, hat mich am meisten überrascht. Ich hoffe, dass jüngere Designer*innen nicht erst jahrelanger Opfer brauchen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Unabhängigkeit und Selbstorganisation ist Freiheit – auch im kreativen Leben.