Jeden Tag passiert so viel, dass ich mich schlecht fühle, wenn ich nur daran denke, mich entscheiden zu müssen, worüber ich schreiben möchte. In mein Tagebuch notierte ich nur einen Satz: „Der Krieg hat begonnen.“ Soll ich davon erzählen, wie die russische Armee unsere Städte bombardiert? Oder darüber, wie ein Kurier mir gestern eine professionelle Kaffeemaschine geliefert hat, die 40 Kilo wiegt, die ich nicht bestellt habe? Oder über das Schmieren von Butterbroten für die Geflüchteten, darüber, wie penibel ich darauf achtete, dass sie eine perfekte Form hatten, und dass die Kombination der richtigen Zutaten stimmte. Und wie sie dann alle aus dem Karton gefallen sind, und ich dabei zusah, wie sie von einem Kinderwagen überrollt wurden? Oder vielleicht darüber, wie meine Mutter entgegen jeder Logik zu meinen Großeltern aufs Land fahren wollte, um Opa und Oma nach Kiew zu holen, womit sie ihr aller Leben in Gefahr brachte? Darf ich darüber schreiben, wie ich hörte, wie ein Busfahrer seine Unzufriedenheit über die große Zahl der Flüchtlinge lautstark zum Ausdruck brachte? Oder darüber, wie am Hauptbahnhof Zelte mit kostenlosem Essen aufgestellt wurden, wie sich vor ihnen lange Schlangen bildeten, die aus der Ferne genauso aussahen, wie die vor weihnachtlichen Glühweinstände? Oder wie unsere ukrainischen Gäste auf dem von der Katze vollgepinkelten Sofa schlafen – was sie nicht wissen, wir hatten einfach keine Zeit und nicht den Kopf dafür, eine professionelle Polsterreinigung zu bestellen – während ihr Hund sich dafür revanchiert hat, indem er auf den Wohnzimmersessel machte. Wie wäre es damit, wenn ich über die Wut auf meine Nazi-Großmutter schreibe, von der ich denke, dass sie den Verstand verloren hat, weil sie mir zu erklären versuchte, dass mein Vater den Krieg erfunden habe und im selben Atemzug davon sprach, dass sie dringend Geld für neue Zähne bräuchte. Geld, dass sie sich nicht einmal dann zusammensparen könnte, wenn sie aufhören würde, sich den Hintern mit Klopapier abzuwischen. Ich könnte auch über mein Gefühl der Schwäche schreiben und zugeben, wie verzweifelt ich mich nach körperlicher Nähe zu einem anderen Menschen sehne. Über die verbale Ohrfeige, die ich kassierte, als ich meinen Exfreund vorschlug, eine Nacht im Sheraton Hotel mit mir zu verbringen. Über die Tatsache, dass ich zwei Tage vorher eine „Freundin“ von ihm beherbergt hatte, die aus Warschau irgendwohin weiterflog und darüber, wie besorgt er über ihr Wohlbefinden war. Хуй!
Alles, was mir in 25 Jahren passiert ist, verbindet sich zu einem surrealen Bad aus ständigen, bizarren, bedrückenden Anekdoten aus 4,6 Millionen Jahren Welt. Es bleibt einem nichts anderes übrig als über diese banale Gleichzeitigkeit zu lachen. Einmal las ich, dass die Welt aus dem Lachen des großen allgegenwärtigen Geistes – des Universums – entstanden ist. Diese Hypothese schien mir so abstrakt und unrealistisch wie die neuesten Nachrichten über das verwüstete Charkiw und Mariupol. BOOM BOOM BOOM! Raketen fliegen über die Städte. HAHAHA! Jemand lacht in seinem Bunker, aber nicht die russische Blogger*innen. Die Armen. Wahre Künstler*innen, Trendschöpfer*innen, Influencer*innen, mit ihrer so wichtigen und originellen Meinungen, sie verstecken sich, sitzen ganz einsam und still in ihren Kleiderschränken. Ich habe wenig Mitgefühl für begrenzte Menschen ohne Fantasie. Ich denke an Abschied, während ich Louis-Vuitton-Handtaschen und Balenciaga Schuhe auspacke. Ein langes schwarzes Paillettenkleid, Hollywood-Welle, tränende Augen, Wimperntusche, die über die Wangen läuft, ein kleiner Hut mit Schleier. Wie traurig, dass keine*r damit gerechnet hat.
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Für mich war der Anfang des Krieges ein Post von dir. Du schriebst, dass deine Eltern in Kiew sind, dass die Supermärkte leer sind, dass kein Benzin mehr da ist, und dass sie die Stadt nicht verlassen können, weil die Straßen verstopf sind, und sie mit einer Tankfüllung nicht weit kommen – und sie auch nicht gehen wollen. Dein Vater will bleiben und kämpfen. Seitdem fühlt sich alles anders an. Ich habe dann das gemacht, was ich immer mache, in beschissenen Situationen: Ich rufe meine Mutter an. Immer wenn ich nicht weiterweiß, rufe ich meine Mutter an und schreie sie an. Keine Ahnung warum. Total sinnlos. Ein paar Stunden später rief Iouri an, er könne sich nicht bewegen. Er liege da, schon den ganzen Tag, wie in einem Lazarett. Ich habe die Sirenen gehört. Meine Großmutter hetzte mich panisch durch die Wohnung. Sie ist vor einigen Jahren gestorben. Seit Beginn des Krieges ist sie wieder da.
Wir haben über den Strom der sich sekündlich verändernden Gefühle gesprochen, der nicht abreißt, der durch unsere Körper schießt. Wut, Hass, Stolz, Angst, Verzweiflung, und plötzlich idiotische Freude, über irgendwas, was gar keinen Sinn macht. Du hast gesagt, dass wir ein großer Organismus sind. Kannst du dir vorstellen, dass wenn wir alle zusammen unsere Energie auf diese eine Sache lenken, nur darauf, dann könnten wir ihn doch einfach zerstören, diesen Krieg, oder? Wie eine Warze, die durch Beschwörung weggeht, weil ihr klar wird, dass sie nicht Teil unseres Körpers ist. Diese Energie, Menschen die aus Ruinen kriechen, die LKWs hochheben, durch Eiswasser laufen, Kinder die gezeugt und geboren werden. Menschen, die sich mit ihren weichen Körpern, vollgepumpt mit heißem Adrenalin, Panzerdivisionen entgegenstellen, weil sie stärker sind als sie. Mit diesem unbändigen Stolz. Einem Stolz, der jetzt Sinn macht, weil er dem Überleben gilt. Aber nicht dem eigenen, sondern dem übergeordneten Überleben. Aber ist das richtig? Magda wusch mir vor vielen Jahren den Kopf. Sie sagte, dass der Warschauer Aufstand keine heroische Tat war, sondern ein Massensuizid, aus der größtmöglichen Verzweiflung geborener Widerstand. Wir alle sind mit diesen Sagen über die Held*innen großgeworden. Held*inne, die davon sprechen in der Kanalisation zu sitzen, zu sehen wie Freund*innen fallen, gerade noch diese Energie, die sie zerreißt, das Gefühl, sie würden den Unterschied machen, als würden nur sie allein den Krieg gewinnen können. Und dann ein Moment, ein Wimpernschlag und es ist vorbei. Ein toter Körper auf einem Haufen anderer toter Körper. Dieser Stolz ist nicht der Stolz meiner Großeltern. Sie waren nicht stolz, sie waren dankbar, überlebt zu haben. Alles tat weh, ihr Leben lang. Es tut immer noch weh.