Der 7. Oktober 2023 hat eine Wunde in der Geschichte Israels und Palästinas aufgerissen. Hierzulande beobachten wir nun seit zwei Jahren eine polarisierte Debatte darüber, einige sprechen gar von Spaltung. Das Massaker der Hamas, die Geiselnahmen, der Krieg in Gaza, Hunger und Vertreibung: All das fordert Trauer, Empathie und Verantwortung. Doch statt diese Realitäten zusammenzudenken, wird oft in zwei Lager sortiert: pro Israel oder pro Palästina. Dieses Denken in klaren Fronten erstickt jede ernsthafte Auseinandersetzung.
Zu dieser Haltung trägt auch die Logik sozialer Netzwerke bei. Ihre Algorithmen zeigen vor allem Inhalte, die zu bestehenden Überzeugungen passen, und verstärken so selektive Wahrnehmung. Wer einmal #BringThemHomeNow klickt, sieht überwiegend israelische Bunkerbilder. Wer #FreePalestine schreibt, sieht vor allem Bilder hungernder Kinder in Gaza. Diese Polarisierung wird auch in Talkshows fortgesetzt: dort wird das Thema als Duell inszeniert, „proisraelisch“ gegen „propalästinensisch“. Für differenzierte Stimmen, für Stimmen, die Komplexität suchen und Brücken bauen wollen, für Stimmen, die für die friedlichen Kräfte vor Ort stehen, bleibt kaum Raum.
Die selektive Empathie hat sich in den letzten Monaten verfestigt: Manche legitimierten noch am 7.10.23 das Massaker der Hamas als Widerstand und entdeckten universelle Menschenrechte erst, als Israel Gaza bombardierte. Andere trauerten zunächst mit, blenden aber heute das Töten und Hungern unschuldiger Palästinenser*innen aus. Es scheint, als ob Mitgefühl hierzulande oft konditional ist, abhängig davon, welchem Lager man sich zugehörig fühlt. Wer sich moralisch überlegen wähnt, prüft selten, wie sehr Algorithmen und Freund*innenkreise das eigene Weltbild bestätigen. Diese selbstgewisse Haltung ersetzt Zuhören durch moralische Selbstvergewisserung und erschwert jede Annäherung. Wer sich nur in der Sicherheit der eigenen Blase bewegt, schützt die eigene Identität und verliert den Blick für die Menschlichkeit der anderen Seite.
Wer nur Parolen ruft, stärkt Lagerdenken. Daher brauchen wir Räume, in denen wir einander zuhören und die unterschiedlichen politischen Haltungen zur Sprache bringen. Wir müssen keinen Konsens finden, aber Ambivalenz ertragen. Das Zuhören, der Dialog und das Streiten dürfen nicht enden. Vielleicht wäre es auch gut, an das eigene Privileg zu denken: uns geht es gut. Wir liken, posten und diskutieren ohne existenzielle Bedrohung, ohne Angst, in unserem Zuhause bombardiert oder von Terroristen überfallen zu werden.
 
			