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Decolonization und Westsplaining (DE & EN)

Dieser Beitrag von Kuratorin und Aktivistin Mariia Vorotilina wurde ursprünglich für das Panel „Decolonization and Westplaining“ auf der documenta fifteen (29.7.2022) verfasst. Wir veröffentlichen ihn hier als Auszug.

Mariia Vorotilina

ENGLISH

Westsplaining

(…) Als eine Person, die in den letzten Jahren in Deutschland gelebt und in den letzten fünf Monaten Gespräche mit Menschen hier im Land über den Krieg geführt hat, möchte ich meine eigenen Erfahrungen mit den strukturellen Kontinuitäten in Verbindung bringen. Ich möchte darauf hinweisen, dass meine Erfahrungen keineswegs als isoliert zu verstehen sind, und genau aus diesem Grund veranstalten wir diese Podiumsdiskussion und nehmen uns die Zeit, über das Thema Kolonialität und seine Zusammenhänge mit Westsplaining zu sprechen.
Ich möchte hier ein besonderes Augenmerk auf die Wissensproduktion legen, weil ich glaube, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung von Diskursen spielt. Es ist eine Tatsache, dass die Wissensproduktion im Westen zentralisiert ist. Diskurse, die von westlichen Akademiker*innen entwickelt werden, werden als zeitgemäß, neutral oder unvoreingenommen wahrgenommen, obwohl sie das per se nicht sein können, da sie immer noch im Westen und aus westlicher Sicht entwickelt werden. Gleichzeitig wurde „Osteuropa“ als konstruierte Region, zu der auch die Ukraine gehört, immer als eine Peripherie des „Westeuropas“ betrachtet, das heißt als unterentwickelt und nahezu barbarisch. Dieser Umstand bestimmt oft, wie die Perspektiven von Menschen aus diesen beiden Regionen wahrgenommen werden und welche Machtdynamik in solchen Interaktionen reproduziert wird.
Vor einigen Monaten habe ich zum Beispiel ein persönliches Archiv mit Erfahrungen von Menschen aus der Ukraine erstellt, die in verschiedenen westlichen Ländern leben. Diese Erfahrungen haben vor allem mit ihren Diskussionen über den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu tun. Ich legte dieses Archiv an, da mir in diesen Gesprächen ein wiederkehrendes Muster auffiel: die Dominanz der westlichen Perspektive auf diesen Krieg im Gegensatz zu der ukrainischen. In den meisten Gesprächen ging es um das Recht der Menschen in der Ukraine auf Selbstbestimmung und Verteidigung oder Widerstand gegen den russischen Imperialismus. Das Interessante daran ist, dass die meisten dieser Diskussionen in Communities stattfinden, die mit Wissenschaft, Kultur und Aktivismus zusammenhängen. Derzeit sind es oft jene Gruppen, die aktiv an der Erschaffung und Aufrechterhaltung bestimmter Diskurse beteiligt sind; und hier kommt die Machtdynamik zum Tragen. Anstatt ihren Kolleg*innen vor Ort und aus dem Kontext heraus zuzuhören, beginnen sie, ihr Wissen und ihre Expertise infrage zu stellen. Hier wird sichtbar, dass dieses Wissen als unterentwickelt und voreingenommen wahrgenommen wird. Ich halte es für wichtig, diesen Umstand anzusprechen, denn ich wünsche mir, dass die Privilegien, die die Menschen in diesen Communities besitzen, genutzt werden, um die Strukturen zu verändern und nicht um sie zu reproduzieren.

(…) Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass der russische Imperialismus lange Zeit nicht als gefährlich angesehen wurde. Natürlich kann man diese Tatsache auf die sogenannte westliche Naivität zurückführen, aber ich möchte noch weiter gehen und den Zusammenhang zur kolonialen westlichen Perspektive herstellen. Diese legitimiert die Vorstellung, dass nur der westliche Kolonialismus der wirkliche und mächtige sein kann, und schafft eine Abstufung zwischen den imperialen Mächten, wodurch die Vorstellung gestärkt wird, dass die mächtigsten Strukturen nur aus dem Westen kommen können. Als Konsequenz daraus wird ignoriert, dass direkt an der Grenze der Europäischen Union ein brutaler imperialer Krieg stattfindet.
Als ein in Deutschland lebender Mensch, als Kuratorin und Aktivistin aus der Ukraine wünsche ich mir, dass die Menschen aus der Ukraine, die derzeit an den sogenannten intellektuellen oder kulturellen Fronten arbeiten, nach fünf Monaten der russischen Invasion eine unbestreitbare Solidarität mit ihrem Kampf gegen die imperialistische Aggression spüren. Dies ist leider noch nicht der Fall. Ich bin der Meinung, dass die Strukturen, die hinter dieser Infragestellung und Ignoranz stehen, abgebaut werden müssen. Es sind nicht die Menschen vor Ort oder aus dem Umfeld, deren Wissen ständig in hinterfragt und bewiesen werden muss (diese Aussage tätige ich selbstverständlich nicht, um zu verallgemeinern, sondern um Kontinuitäten zu skizzieren), sondern es sind das koloniale Wissen und die kolonialen Perspektiven über und auf die Ukraine sowohl aus dem Westen als auch aus Russland, die dekolonialisiert werden müssen. Der erste Schritt wäre, die dahinterstehende Kolonialität zu erkennen, um dann ihre Reproduktion stoppen zu können. Der letzte Schritt wäre, sie aktiv abzubauen und zu bekämpfen; das heißt, uns selbst, unser Wissen und die Strukturen um uns herum zu dekolonialisieren. Wenn wir das getan haben, denke ich, wird die Frage, ob wir den Widerstand der Ukraine unterstützen sollen oder nicht, nicht mehr auf der Tagesordnung stehen.
Dankeschön!

Übersetzung: Anne Diestelkamp